Interview mit Dr. Matthias Forell
Wir sind froh und stolz, dass sich der Erziehungswissenschaftler Dr. Matthias Forell 2023 bereit erklärt hat, sich mit seiner Leidenschaft und Expertise in die Vorstandsarbeit von EDUCATION Y einzubringen. In diesem Interview gibt er Einblick in seine Perspektive auf die Bildungssituation und seine Pläne für die Vorstandsarbeit
Warum engagierst Du Dich im Vorstand von EDUCATION Y?
Seit meiner Fellow-Zeit bei Teach First Deutschland bin ich nun seit 15 Jahren nicht nur beruflich eng mit Fragen rund um Schule und soziale Ungleichheit und Bildungsgerechtigkeit verbunden, sondern habe über die Jahre auch viele praktische Erfahrungen in und mit Schulen in herausfordernden Lagen gesammelt und eine fundierte wissenschaftliche Expertise und große Leidenschaft für diese Themenbereiche entwickelt, die ich nun gerne gezielt in die Organisation einbringen möchte. Die Intention von EDUCATION Y, mehr Chancengerechtigkeit und somit mehr Teilhabemöglichkeiten zu schaffen, um Schülerinnen und Schüler auf eine selbstbestimmte Zukunft in einer diversen und digitalen Gesellschaft vorzubereiten, spricht mich besonders an. Mit meinem Engagement möchte ich dazu beitragen, diese Vision weiter voranzutreiben und gemeinsam mit dem Team von EDUCATION Y innovative und nachhaltige Lösungen zu entwickeln, und damit aktiv an der Umsetzung von wirkungsvollen Bildungsinitiativen mitzuwirken.
Warum ist Bildung so wichtig?
Bildung ist der Schlüssel zu selbstbestimmtem Handeln und gesellschaftlicher Teilhabe. Sie eröffnet nicht nur Zugang zu dem dafür notwendigen Wissen und Kompetenzen, sondern legt auch den Grundstein für ein eigenständiges Leben in einer zunehmend komplexen und globalisierten Welt. Besonders in sozial herausfordernden Kontexten ist Bildung entscheidend, um Chancengerechtigkeit zu fördern und soziale Ungleichheiten abzumildern. Dadurch werden gerade benachteiligte Schülerinnen und Schüler befähigt, ihr Potenzial zu entfalten, ihre vermeintlich vorgezeichneten Bildungswege zu verändern oder zumindest den vielfältigen dabei auftretenden Herausforderungen gestärkt zu begegnen und daraufhin aktiv ihr persönliches Umfeld mitgestalten zu können.
Was sind aktuell die größten Herausforderungen im Bildungsbereich?
Als die größten derzeitigen Herausforderungen im Bildungsbereich möchte drei zentrale Punkte benennen, ohne dass ich hier einen Anspruch auf Vollständigkeit formulieren würde: Erstens gibt es eine seit langem ungebrochene Reproduktion sozialer Ungleichheit im deutschen Schulsystem, die sich in deutlichen herkunftsbedingten Unterschieden in der Kompetenzentwicklung von Schülerinnen und Schülern widerspiegelt und vor allem an Schulen in herausfordernden Lagen offenbar wird. Zweitens stellt der Lehrkräftemangel, insbesondere an Grundschulen, im nicht-gymnasialen Bereich und in ländlichen Regionen, ein erhebliches Problem dar. Dass dadurch Bildungsangebote gerade für solche Schülerinnen und Schüler eingeschränkt werden, die vermehrt auf Unterstützung angewiesen sind, verringert bzw. erschwert die Teilhabechancen eines großen Anteils junger Menschen. Drittens bleibt der Ausbau der digitalen Bildungsinfrastruktur unzureichend. Darüber hinaus fehlt es noch immer an einer etablierten Kultur der Digitalität an deutschen Schulen, die sowohl Lehrkräfte als auch Schülerinnen und Schülern befähigt, gestaltender Teil unserer mittlerweile digitalen Welt zu sein.
Was sind Hebel und Maßnahmen, um die Situation in herausgeforderten Lagen zu verbessern?
Zur Verbesserung der Situation an Schulen in herausfordernden Lagen sind verschiedene Maßnahmen notwendig, auf die ich nicht in Gänze eingehen kann. Zentral ist meines Erachtens zunächst, dass etwaige Maßnahmen langfristig angelegt und systematisch aufeinander abgestimmt sind. Zudem sollten sie durch ein datengestütztes Monitoring begleitet werden. Neben einer fundierten Frühförderung im Vorschulbereich ist aus meiner Sicht eine gezielte Sprachförderung von Schülergruppen mit (überwiegend) nicht-deutscher Familiensprache ebenso notwendig. Darüber hinaus benötigen Schulen in herausfordernden Lagen eine gezielte Unterstützung, etwa durch sozialindexbasierte Mittelzuweisung oder groß angelegte Förderprogramme, in denen Einzelschulen voneinander, aber auch von ko-konstruktiver Schul- und Unterrichtsentwicklungsbegleitung profitieren können, indem sie beispielsweise erprobte und evaluierte (Förder-)Materialen einsetzen und weiterentwickeln oder diversitätssensible Ansätze der Habitusreflexion kennenlernen und anwenden. Zudem sollte der Fokus auf die Förderung von Basiskompetenzen wie Lesen und Mathematik, aber auch digitalen Kompetenzen gelegt werden. Weitere Hebel umfassen eine möglichst früh einsetzende niedrigschwellige Familienorientierung unter Einbezug aller schulischen Akteurinnen und Akteure, was für die Zusammenarbeit mit Eltern neben Lehrkräften vor allem das weitere pädagogisch tätige Personal einschließt.
Warum sind Social Profit Organisationen wie EdY im Bildungsbereich wichtig? Was zeichnet sie aus? Was können sie bewirken, was anderen Akteuren schwerfällt?
Social Profit Organisationen wie EDUCATION Y spielen eine entscheidende Rolle im Bildungsbereich, da sie flexibel und innovativ auf aktuelle Herausforderungen reagieren können. Sie zeichnen sich durch ihre Fähigkeit aus, soweit möglich unabhängig von staatlichen Strukturen gezielte Bildungsinitiativen mit den Handelnden vor Ort zu entwickeln und umzusetzen, die direkt auf die Interessens- und Bedarfslagen der Schülerinnen und Schüler eingehen. Zudem bringen sie unterschiedliche Akteurinnen und Akteure der verschiedenen Ebenen zusammen, fördern eine kollaborative Kultur und können Brücken und Netzwerke zwischen Schulen, Kommunen und anderen Bildungseinrichtungen, aber auch Unternehmen bauen. Diese Organisationen haben oft den Vorteil, dass sie wirkungsorientierte Programme durchführen, die auf evidenzbasierten Ansätzen beruhen und sich kontinuierlich an die standortspezifischen Rahmenbedingungen anpassen können. Anders als staatliche Akteure können sie schneller handeln und gezielt Ressourcen dort einsetzen, wo sie dringend benötigt werden.
Was sind Deine Ziele und Wünsche für die kommenden Jahre?
Für die kommenden Jahre wünsche ich mir, dass wir als Team von EDUCATION Y weiterhin innovative Bildungsprojekte entwickeln, die nicht ‚nur‘ vor Ort nachhaltig wirken, sondern auch übergreifende Relevanz haben. Außerdem ist mir wichtig, die Zusammenarbeit mit bestehenden Partnerinnen und Partnern zu vertiefen und neue Kooperationen zu initiieren, um die Reichweite und den Einfluss von EDUCATION Y zu vergrößern, und schließlich mehr Bildungsgerechtigkeit zu erreichen.